Text: Tomas Niederberghaus, Fotos: Cyrus Saedi
Eine Frau glaubt, sie sei eine Fliege. Eine andere wird von ihrer Familie verlassen, weil sie an einer Nervenkrankheit leidet, die man einst «Veitstanz» nannte – ihr Körper zappelt unkontrolliert, tagein, tagaus. Ein Mann entwickelt eine eigene Sprache und kommuniziert nur noch in ihr. Das sind Menschen, denen Christian Spuck während seines Zivildiensts in der Psychiatrie begegnet ist. Einer Zeit, in der er, wie er sagt, «viel gelernt hat», aus der er «heute noch schöpft». Der 46-jährige gebürtige Marburger ist ein gefeierter Choreograf und seit drei Jahren Ballettdirektor an der Zürcher Oper. Seine Aufführungen finden international Beachtung, das britische Magazin «Dance Europe» kürte sie als die besten in Europa. Einen umsichtigen Überflieger nannte ihn «Die Zeit». Ich habe Christian Spuck geschrieben und ihn gefragt, ob er mir seine Lieblingsplätze in der Stadt zeigt. Wochen später betrete ich sein Büro in der Oper und er sagt: «Ich habe in Zürich keine Lieblingsplätze.»
Christian Spuck, braunes Haar, blaue Augen, hat sich einen jugendlichen Charme bewahrt; durch sein schwarzes Hemd zeichnet sich ein athletischer Körper ab. Sein Büro ist im zweiten Stock. Graues Sofa, weisse Wände, irgendwo hängen Porträts der 50 Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles. Vom Schreibtisch kann er über den Zürichsee bis zum Üetliberg hinüberschauen. Er mag die Stadt. Und natürlich hat er Plätze, die er gerne aufsucht. Einer ist fast nur ein Meisenzwitschern von der Oper entfernt. Wir überqueren die Limmat auf der Münsterbrücke und tauchen in die Altstadt ein. In kleinen, feinen Geschäften sind Hüte ausgestellt, Schuhe, Rasierpinsel und die Mode lokaler Designer. «In diesem Gewirr aus Gassen und Winkeln kann man sich wunderbar verirren», sagt er. «Und was mich immer wieder überrascht: dass es so viele hübsche Altbauten gibt, die Stadt gleichzeitig aber so international ist.» Jetzt noch einmal links, zweimal rechts, dann biegen wir auf speckschwartenglattem Kopfsteinpflaster in die Pfalzgasse ein. Sie steigt leicht an und führt auf einen kreisrunden Platz. Sorgfältig geharkter Kies. Ein Schachfeld ist zu sehen, Linden spenden Schatten und geben dieser höchsten Erhebung der Altstadt auch den Namen: Lindenhof.
Es ist ruhig hier. «Der Ort steht für Freiheit», sagt Christian Spuck. Ein filigranes Gebäude beherbergt die grösste Freimaurerloge der Schweiz Modestia cum Libertate (Bescheidenheit und Freiheit). Um den Lindenhof rankt sich eine hübsche Anekdote: Eine Frau namens Hedwig ab Burghalden hat die Stadt Ende des 13. Jahrhunderts hier vor der Übernahme durch die Habsburger gerettet. Da die Männer ausserhalb von Zürich in einer Schlacht zu tun hatten, stellte sich die Adlige – begleitet von einer Schar von Frauen – auf die Stadtmauer. Sie müssen furchteinflössend ausgesehen haben, bekleidet in Kettenhemden, bewaffnet bis zum Anschlag; die Habsburger zogen ab. Auf dem Brunnen des Lindenhofs steht heute die Statue Hedwig ab Burghaldens. «Frauenpower im frühen Mittelalter», sagt Christian Spuck. Dass ihm die Sage gefällt, wundert nicht. Er ist ein moderner Geschichtenerzähler. Kritiker loben seine Art, selbst verschmockte Literaturvorlagen mit Tanz, Emotionen und Musik in einen zeitgenössischen Kontext zu stellen und Menschen zu begeistern. Auch die Jugend. Wer an der Zürcher Oper Mitglied im Club Jung (16 bis 26 Jahre) wird, kann bei Proben zuschauen und bekommt Last-Minute-Karten für nur CHF 15.
Christian Spuck ist Quereinsteiger. Zum Tanz kam er spät. Abitur und Zivildienst verlangten die Eltern von ihm. Er war bereits 21, als er die Chance bekam, an der Stuttgarter Ballettschule, der John Cranko Schule, eine Ausbildung zu beginnen. Hoch talentiert, aber quasi ohne Vorbildung stand er mit Schülern in der Klasse, die gerade mal 15 oder 16 waren. Einer sagte zu ihm: «Aus dir wird eh nix. Du bist viel zu alt.» Auch der Lehrer mochte ihn nicht. «Er hat mir regelmässig ins Gesicht gespuckt, wenn ich etwas nicht kapierte», erinnert er sich. Im Nachhinein kann er der Erfahrung etwas Positives abgewinnen. «Widerstände», sagt er, «sind die Momente, in denen man wächst». Er hat hart gearbeitet und wurde schnell erfolgreich. Er war der letzte Tänzer, den die berühmte Marcia Haydée in ihrer Funktion als Direktorin des Stuttgarter Balletts verpflichtete. Als Choreograf arbeitete er mit renommierten Tanzcompagnien wie der Hubbard Street Dance 2 in Chicago und dem Nationalballett in Oslo. Bevor er nach Zürich kam, war er Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, wo er auch ein Solostück mit der Ballettikone und Freundin Haydée machte, die inzwischen 78 Jahre alt ist. Der Mann, dessen Produktionen junge Menschen begeistern, arbeitet sehr gerne mit alten Tänzern zusammen. «Ihre Persönlichkeit und Ausstrahlung sind faszinierend», sagt er.
In Zürich ist Christian Spuck längst stadtbekannt. In der Strassenbahn Nummer 13, die wir am Paradeplatz nehmen, wird er von einer Passantin gegrüsst. Er fahre regelmässig Bahn, sagt er, er liebe das Bimmeln und Klingeln und Rumpeln und Pumpeln – und natürlich, dass man mit ihr schneller durch die Stadt kommt als mit dem Auto. An der Limmatstrasse steigen wir aus und erreichen nach ein paar Metern das Maison Blunt, einen Tea-Room, lässig und weltoffen. Sein Besitzer verkaufte früher Hanfsäckchen – selbstverständlich nur für den guten Duft. Im Maison Blunt gibt es einen orientalischen Kachelboden, es gibt Sofas mit Berberteppichen, auf denen sich Gäste fläzen, und es gibt eine Marokkanerin, die ausgezeichnet kocht. Zum Beispiel das Couscous-Poulet, das uns mit Minztee serviert wird. Perfekt! Wir speisen und plaudern: über Zürich, über Tanz und auch über den Tod. Zum Schluss möchte ich wissen, was Christian Spuck aus dem Zivildienst für das Leben mitgenommen hat. «Andersartigkeit zu respektieren», sagt er, «jeden Menschen ernst zu nehmen, ihm zuzuhören und für ihn da zu sein». Das gelte auch für seine Arbeit mit den Tänzerinnen und Tänzern. Er sagt: «Respekt ist die Grundlage für alles.»
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