Von Tomas Niederberghaus
Es dauert an diesem warmen Spätsommertag in Zürich keine fünf Minuten, bis er seine Karriere mit einem denkenswerten Satz charakterisiert. Wir sitzen draussen vor der Markthalle, Kreis 5, auf einem tomatenroten Tisch steht sein Cappuccino. Er zieht an seiner Zigarette und sagt: «Ich bin ein Unfall im System.» Unfall – das klingt vielleicht ein bisschen krass. Denn Raphael Gygax, blaues Hemd, roter Gürtel, Basecap, ist niemand, der durch ein plötzliches und von aussen einwirkendes Ereignis irgendwo landet. Er ist eher jemand, der es anpackt. Der um sieben in der Früh mit der Arbeit beginnt und manchmal noch um 10 Uhr abends beschäftigt ist. Mit 22 heuerte er als Praktikant beim Zürcher Migros Museum für Gegenwartskunst an – und wurde ein paar Jahre später dessen Kurator. Daneben kuratierte er Ausstellungen in London, New York und Paris. Er schrieb als Kunstkritiker für die Kunstzeitschrift Frieze – inzwischen ist er der erste nicht englisch(mutter)sprachige Kurator für das Non-Profit-Programm Frieze Projects der gleichnamigen bekannten Kunstmesse. Unfall? Natürlich ist das in der Kunstwelt eine ungewöhnlich junge Karriere, schliesslich ist er erst 36 Jahre alt. Und vielleicht ist er zum rechten Zeitpunkt immer am richtigen Ort. Aber auch das will gekonnt sein.
Vier Stunden haben wir an diesem Tag Zeit. Vier Stunden, in denen der promovierte Kunsthistoriker mir sein kulturelles Zürich zeigen wird. Klar, dass wir gleich um die Ecke im historischen Gebäude der Löwenbräu starten. Der backsteinrote Industriebau zieht sich entlang der Limmatstrasse und ist heute ein Zentrum für zeitgenössische Kunst. «In den 90er Jahren war Kreis 5 noch Drogendistrikt», sagt Raphael Gygax, «ganz Europa wusste um die Zürcher Heroinszene». Heute beherbergt das Löwenbräu in seinen weiss gekalkten, riesigen Räumen kommerzielle Galerien und das Migros Museum für Gegenwartskunst. Dessen Hauptsaal wird bei unserem Besuch noch von der europäischen Biennale Manifesta beansprucht: der Künstler Mike Bouchet zeigt eine getrocknete und in Würfel gepresste Tagesproduktion Zürcher Fäkalien. Raphael Gygax kommentiert das Werk nicht. Statt dessen besuchen wir die Galerie Barbara Seiler, die gerade ins Löwenbräu eingezogen ist. Barbara Seiler hat auch die Kunstwerke des Hotels Atlantis by Giardino kuratiert und ist in der Zürcher Szene nicht minder bekannt wie Gregor Staiger, der nebenan vor fünf Jahren seine Galerie eröffnet hat. Ein quadratischer weisser Raum, Oberlicht, schmale Säule. Gregor Staiger, sagt Raphael Gygax, vertritt Künstler, die ich sehr schätze und zum Teil selbst schon ausgestellt habe. Zum Beispiel Florian Germann, einen «der wichtigsten jungen Künstler der Schweiz». Ein Bild sticht ins Auge, ein angedeuteter Frauenakt, der auf einem blauen Stoff zu verschwinden scheint. Eine Arbeit von Adele Röder. «Die deutsche Künstlerin hat bereits im New Yorker MoMA ausgestellt», sagt Raphael Gygax, während wir die Galerie verlassen und uns zum nächsten Ziel aufmachen.
Raphael Gygax, geboren in Bern, ist Wahl-Zürcher durch und durch. Er reist oft nach London, Berlin und New York, aber einen anderen Ort zum Leben kann er sich nicht vorstellen. »Ich liebe Zürich. Die Stadt ist einer der wichtigsten Umschlagplätze für zeitgenössische Kunst», sagt er, und betont die «ungeheure kulturelle Dichte auf kleinem Raum». Deshalb ist es nur ein Katzensprung bis zur Galerie Eva Presenhuber im Maag Areal. Wir laufen am Viadukt vorbei, unter dem zahlreiche kleine Läden eingezogen sind. Kurz stoppen wir in der Nummer 23, scannen die wunderbaren Auslagen des Schweizer Labels Rubirosa (benannt nach dem legendären Lebemann, Rennfahrer und Playboy Porfirio Rubirosa) und flanieren weiter.
Raphael Gygax wird bei Eva Presenhuber wie ein Familienmitglied empfangen. Die Räume der bekannten Galeristin, die nach Raphael Gygax Schätzung «etwa 15 Prozent der wichtigsten Schweizer Künstler vertritt» (darunter Fischli/Weiss oder Ugo Rondinone), ist im Diagonal Gebäude, einem denkmalgeschützten Industriebau gleich hinter der Hardbrücke, perfekt renoviert. Wir werfen nicht nur einen Blick in die Ausstellung (wunderbare Werke des US-Malers Joe Bradley), sondern geniessen auch die Ausblicke von der Dachterrasse des fünften Stockwerks, wo Eva Presenhuber ein cooles Büro hat – das Kunstleben ist schön!
Das Diagonal Gebäude steht im Schatten des neuen Prime Towers, seine Glasfassade leuchtet piniengrün. Gebaut wurde es von den Architekten Annette Gigon und Mike Guyer. Im Kreis 5 wirkt es wie ein neues Wahrzeichen. Von hier aus setzen wir unseren Spaziergang fort, passieren die Giesserei Puls 5 mit ihrer historischen Industriehalle, dann die Probebühne der Zürcher Oper, und landen schliesslich in dem Buch-Café Sphères. Auf der von Glycinien umrankten Terrasse am Flussufer erzählt Raphael Gygax, was er an seiner Arbeit schätze: «Es ist ein Luxus, dass ich mich immer wieder mit neuen Wissensfeldern beschäftigen kann. Dass ich die Freiheit habe, sie auszuwählen.» Und dass Zürich ideale Möglichkeiten für Verschnaufpausen biete. Was er damit meint, merke ich, als wir hinter dem Sphères am Fluss entlanglaufen. Auf dem Rasen geniessen die Menschen die Mittagspause. Dörflicher kann eine Stadt kaum sein. Einfamilienhäuser säumen hier das Limmatufer. In Obstgärten trocknet Wäsche und Kaminholz. Am Fluss Badi Unterer Letten überqueren wir noch einmal die Limmat. Und sind auch schon wieder am Löwenbräu. Raphael Gygax sagt: «In welcher Stadt kann man das sonst: so viele Dinge an einem Tag erledigen.»
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