Von Jayden Dion
2’199 Meter können verdammt lang sein. Vor allem in der Bergbahn, die zum Muottas Muragl hochfährt und an diesem Morgen voll ist wie eine Dose mit Ölsardinen. Ich stehe ganz vorne, meine Nase klebt an der Frontscheibe, und wenn die Russin hinter mir einatmet, werde ich von ihrem stolzen Busen erdrückt. Die Luft tut ihr Übriges.
Es mischt sich der Geruch von schwierigem Parfüm mit Leberwurst auf Pausenbrot, das in einem dieser unzähligen Rucksäcke steckt. Aber ich bin wohl der einzige Klaustrophobische – alle anderen plaudern wild und laut und freudig durcheinander: russisch, polnisch, schweizerdeutsch, englisch. Wer frühmorgens durch die Bergwelt zieht, hat gute Laune, auch wenns mal eng wird.
Oben ist es wirklich schön. Kaum sind wir losgelaufen, um den Schafberg zu erklimmen und die legendäre Segantinihütte zu besuchen, hat sich die Menschentraube aufgelöst. Die Luft: phänomenal. So gut, dass man gleich mal den Komponisten Richard Strauss mit den besten Sätzen zitieren möchte, die jemals über das Engadin gesagt wurden: «Wir sind hier restlos begeistert und schlürfen die Luft der Gämsen wie französischen Champagner! Kein Wunder, dass der gute Nietzsche hier übergeschnappt ist.» Die Vorstellung, dass nicht nur Segantini, sondern auch der gute Strauss hier möglicherweise entlanggewandert ist, löst Ehrfurcht aus. Die Natur tut das Übrige. Hier ist alles gewaltig. Die Ausblicke, die schwarzen Kühe, die uns entgegenmuhen, und natürlich das Licht, das der Maler Giovanni Segantini (1858 bis 1899) in seinen Bildern so einmalig eingefangen hat. Er erhellte das romantisierte Dunkel der Berge und gilt als der Erneuerer der Alpenmalerei.
Segantini kam im österreichischen Arco zur Welt. Seine Kindheit war vom Tod geprägt: Kurz vor seiner Geburt starb sein Bruder. Seine Mutter starb, als er sieben war. Sein Vater brachte ihn zu einer Tochter aus erster Ehe nach Mailand und starb wenig später selbst. Segantini riss mit 13 aus, wurde auf der Straße aufgegriffen und in eine sogenannte Besserungsanstalt gebracht. Dort entdeckte ein Geistlicher sein Talent. Später studierte er an der Kunstakademie Mailand. Nur die letzten fünf Jahre bis zu seinem Tod hat der Maler im Engadin gelebt. Heute gilt er als dessen Botschafter. «An manchen Morgen», schrieb er, «während ich minutenlang diese Berge betrachte, noch bevor ich zum Pinsel greife, fühle ich mich bedrängt, mich vor ihnen niederzuwerfen als vor lauter unter dem Himmel aufgerichteten Altären.»
Vor der Hütte, die wir in einer Stunde erreichen werden, hat Segantini sein berühmtes Alpentriptychon geschaffen: «La Vita – La Natura – La Morte». Die drei Werke sind im Segantini-Museum in St. Moritz zu bewundern. Bis wir oben sind, fließt noch viel Schweiß die Schläfen hinab. Es geht steil hinauf. Anfangs haben wir uns noch unterhalten, jetzt schweigen wir, konzentrieren uns aufs Wandern. Ein älterer Herr mit Dackel überholt uns – wir überholen eine krebsrot verbrannte Frau, die sich mit ihren Flip-Flops schwertut. Was nicht verwundert: Das Wort birgt ja den Flop in sich! Inzwischen besteht der Weg nur noch aus Felsstufen und ist zuweilen so schmal, dass Sicherheitsseile vor den Abgrund gespannt sind. Wir lassen es gemächlich angehen und sind erstaunt, was in dieser schwindelerregenden Höhe alles wächst: Enzian, Hahnenfuß und dreizähniges Knabenkraut.
Kurz vor der Segantinihütte steht eine rote Box mit Schweizerkreuz – das wohl edelste frei stehende WC der Alpen. Ein krasser Gegensatz zu der alten, winzigen Steinhütte, in der Segantini gemalt hat und in der er gestorben ist – vermutlich an einer Bauchfellentzündung. Zehn Tage soll er hier gelegen haben; er konnte nicht mehr ins Tal transportiert werden. Schon lange ist die Hütte in 2’731 Meter Höhe eine Wallfahrtsstätte. An diesem Morgen sitzen hier: der Welterklärer, der seiner Frau jeden Gipfel erläutert, der stille Genießer mit Butterbrot und hart gekochten Eiern, der bärtige Bergfex und zwei Japaner, die um den halben Erdball geflogen sind, um mit eigenen Augen zu sehen, was sich bis Yokohama herumgesprochen hat: Segantini war ein Jahrhundertmaler. Wer einmal vor dieser Hütte gesessen hat, versteht seine Faszination für die Berge. Der Blick reicht auf die Oberengadiner Seenplatte mit St. Moritz, Silvaplana, Sils Maria und Maloja sowie ins tief eingeschnittene Rosegtal mit den darüber thronenden Gletscherwänden. Wer dazu eine Graupensuppe isst, die hier ganz wunderbar schmeckt, und ein Bier trinkt, weiß, was Glück heißt. Man sieht es in den Gesichtern der Wanderer. Und der Dackel ist hier oben so außer sich, dass er versucht, einen Jagdhund zu bespringen.
Auch der Abstieg über zuweilen steiniges Geröll ist kein Spaziergang. Der Weg nach Pontresina führt an einigen Stellen steil hinunter. In die Stille mischen sich nur die Geräusche unserer Fußtritte oder das kurze, schrille Pfeifen eines Murmeltiers. Für eine weitere Stunde sind wir fernab von allem. Diese Isoliertheit vom Weltgeschehen hat Segantinis besten Bildern eine ungeheure Kraft verliehen. Spätnachmittags kehren wir mit müden Füßen ins Giardino zurück. Jetzt ab ins dipiù Spa zu einem Peeling mit vorgewärmtem Meersalz und anschließend zu einer Massage mit Rosmarin-Avocado-Öl. Was für ein Tag!
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